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Vater des Euro-Beitritts "Griechenland hat nie betrogen"

Hat Griechenland sich in die Euro-Zone geschummelt? Der damals verantwortliche Finanzminister Nikos Christodoulakis empört sich über diesen Vorwurf. Bei den Verhandlungen hätten fast alle getrickst, sagt er - auch die Deutschen.
Feier zur Euro-Einführung in Athen 2002: "Jeder wusste davon"

Feier zur Euro-Einführung in Athen 2002: "Jeder wusste davon"

Foto: THANASSIS STAVRAKIS/ ASSOCIATED PRESS

Thessaloniki - Sie sind wieder da: Seit Anfang dieser Woche überprüfen Vertreter der sogenannten Troika von Europäischer Union, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) einmal mehr, ob Griechenland die Auflagen für weitere Finanzhilfen erfüllt.

Doch haben die Griechen einst überhaupt die Vorschriften zum Euro-Beitritt erfüllt? Diese Frage sorgte in Griechenland in den vergangenen Wochen für heftige Diskussionen. Anlass waren Äußerungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf einer Wahlkampfveranstaltung in Rendsburg. Dort sagte die Kanzlerin, man hätte "Griechenland gar nicht aufnehmen dürfen".

"Schämen Sie sich, Frau Merkel", war daraufhin ein offener Brief in der Zeitung "To Vima" überschrieben. Er stammt von Ex-Finanzminister Nikos Christodoulakis, der in Griechenland als Vater des Euro-Beitritts bekannt ist. Im Interview erklärt der Sozialist, warum seine Regierung aus seiner Sicht nicht betrogen hat - und zunächst sogar als Vorbild galt.

SPIEGEL ONLINE: Woher kommt Ihre Wut über Kanzlerin Merkel? Es ist doch allgemein bekannt, dass Griechenland eigentlich nicht das Defizitkriterium erfüllte, als es 1999 der Euro-Zone beitrat.

Christodoulakis: Es ist schlicht ein bequemes Gerücht, dass ein einzelner Euro-Staat die Verantwortung für alle Probleme trägt. Das erinnert mich an eine Fabel von Äsop. Da isst der Löwe zu viele Schlangen, der Elefant trampelt alles nieder. Doch am Ende soll die kleine Ameise an allem schuld sein, weil sie auf der Suche nach Essen einen Zaun überquert hat.

SPIEGEL ONLINE: Griechenland ist also die unschuldige, fleißige Ameise. Aber das griechische Defizit für 1999 wurde im Nachhinein von 1,6 auf mehr als drei Prozent der Wirtschaftsleistung hochkorrigiert. Damit hätte das Land nicht beitreten dürfen.

Christodoulakis: Das Defizit lag nur leicht über der Drei-Prozent-Schwelle, zuvor war die Neuverschuldung zweistellig. Als ehemaliger Minister weiß ich, was für eine Herkulesaufgabe die Absenkung war. Wir haben Löhne eingefroren, Verschwendung gestoppt, Hunderte von öffentlichen Einrichtungen abgeschafft.

SPIEGEL ONLINE: Sie bestreiten also nicht, dass das Defizit erst nach dem Euro-Beitritt gesenkt wurde?

Christodoulakis: Dabei ging es um Militärausgaben. Wegen der Grenzstreitigkeiten mit der Türkei machten die zum Teil vier Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Hätten wir das ins Defizit aufgenommen, wäre es nie zu Beitrittsverhandlungen gekommen. Deshalb haben wir diese Kosten voll im Gesamtschuldenstand, aber nur schrittweise im Defizit aufgeführt. So sind viele Länder mit hohen Militärausgaben verfahren. Und Deutschland hat etwas Ähnliches gemacht. 

SPIEGEL ONLINE: Und zwar?

Christodoulakis: Es hat seine verlustbringenden staatlichen Krankenhäuser nicht mehr zum öffentlichen Sektor gezählt. Wie sich im Konvergenzreport nachlesen lässt, wurde somit das Defizit nachträglich um 0,1 Prozentpunkte und mehr gedrückt.

SPIEGEL ONLINE: Hat Ihre kreative Buchführung damals für Stirnrunzeln gesorgt oder war sie ein Geheimnis?

Christodoulakis: Jeder wusste davon. Die Konvergenzkriterien wurden schließlich auch für alle Gründungsmitglieder des Euro flexibel ausgelegt - sonst hätten sich nur die Niederlande und Luxemburg qualifiziert.

SPIEGEL ONLINE: Es wurde also absichtlich weggesehen?

Christodoulakis: Alle wussten, dass Griechenland Schwierigkeiten hatte, die Kriterien zu erfüllen und dass das auch so bleiben könnte. Aber wir haben nie jemanden betrogen.

SPIEGEL ONLINE: Wieso hat die europäische Statistikbehörde Eurostat dann wiederholt die Zahlen aus Griechenland gerügt?

Christodoulakis: Eurostat hatte viele Fragen, aber sie wurden alle bis 2002 geklärt. Ich hatte ein Treffen mit dem damaligen Chef Yves Franchet und er war vollauf zufrieden mit unseren Fortschritten. Auch der IWF hat 2003 die enorme Verbesserung unserer Statistik gelobt. Wir galten damals sogar als Vorbild!

SPIEGEL ONLINE: Wirklich? Für wen denn?

Christodoulakis: Für Beitrittskandidaten. Wegen unserer Fortschritte beim Sparen, dem Kampf gegen die Inflation und der Umsetzung anderer EU-Normen. Auf Einladung des früheren Finanzkommissars Pedro Solbes habe ich wiederholt in osteuropäischen Ländern Vorträge darüber gehalten, wie sie ihre Haushalte sanieren können, ohne das Wachstum zu schädigen.

SPIEGEL ONLINE: Selbst wenn wir mal kurz annehmen, Griechenland hätte beim Euro-Beitritt keine Zahlen manipuliert: Die spätere Schuldenkrise ist ja wohl Beweis genug, dass das Land kein geeigneter Kandidat war.

Christodoulakis: Im Gegenteil! Ein schwaches Land muss sich reformieren. Gerade wegen unserer Probleme mussten wir einer Gruppe entwickelter Länder mit starken Institutionen beitreten. Unser Außenhandelsdefizit sank nach dem Beitritt, weil wir wettbewerbsfähiger wurden.

SPIEGEL ONLINE: Und warum hat Griechenland während Ihrer Amtszeit die notwendigen Reformen verschlafen? Stattdessen wurde das Geld verprasst, das man sich nach dem Beitritt viel günstiger leihen konnte.

Christodoulakis: Rückblickend hätte man zweifellos mehr tun müssen. Aber wir waren auf einem guten Weg. Dann kamen die Konservativen an die Macht und haben innerhalb weniger Jahre die Ausgaben verdoppelt und Tausende öffentliche Bedienstete eingestellt. Und niemand in der EU hat protestiert.

SPIEGEL ONLINE: Und vor diesem Hintergrund fordern sie nun, dass die Troika Griechenland in Frieden lassen soll. Dann würde die Politik doch so weitermachen wie vorher.

Christodoulakis: Wir müssen aus dem Abkommen mit der Troika raus, denn seine Umsetzung hätte nicht schlechter laufen können. Aber es stimmt: Griechenlands politisches System kann es nicht erwarten, zu den alten Gewohnheiten zurückzukehren. Das wäre noch schlimmer als die Troika-Auflagen. Deshalb brauchen wir eine Verfassungsreform, die strenge Regeln für neue Schulden verhängt und teure Geschenke vor Wahlen verhindert.

SPIEGEL ONLINE: Wenn das schon mit der Troika nicht gelingt, wie soll es ohne ihren Druck passieren?

Christodoulakis: Gerade da liegt das Versagen der Troika. Sie hat sich völlig auf Einsparungen und Steuererhöhungen konzentriert und uns damit die tiefste Rezession eines entwickelten Landes im 20. Jahrhundert beschert. Langzeitreformen dagegen wurden ignoriert.

SPIEGEL ONLINE: Viele Griechen hoffen, dass Deutschland jetzt nach der Bundestagswahl seine harte Haltung bei den Sparauflagen lockert. Sie persönlich hoffen sogar, dass Deutschland einen Zwangskredit aus der NS-Zeit zurückzahlt, obwohl es dafür bislang keine Anzeichen gibt. Woher nehmen Sie den Optimismus?

Christodoulakis: Diese Forderung wurde nie erlassen. Ich habe ein Buch mit Schätzungen veröffentlicht, nach denen der heutige Wert zwischen 13 und 15 Milliarden Euro liegen würde - in etwa der deutsche Anteil am ersten Hilfspaket. Als Zeichen des guten Willens könnte Deutschland auf die Rückzahlung dieser Kredite verzichten und Griechenland im Gegenzug seine Forderung nach Rückzahlung des Zwangskredits aufgeben.

Übersetzung und Mitarbeit: David Böcking